Teil 2: Ein Tessiner Familienbetrieb behauptet sich gegen die nördliche Konkurrenz.
Tja, das ist immer so eine Sache mit Versprechungen. Sehr schnell ist da mal etwas formuliert. Und noch schneller ist es dann vergessen. Hier hätte er ja auf die rechtliche Verjährungsfrist zurückgreifen können. Denn es sind ja schon zehn Jahre um seit dem Versprechen, dass die Bevölkerung im Sottoceneri ohne weit reisen zu müssen, alsbald am Monte Tamaro Skifahren (lernen) könne. Aber ehrlich gesagt, keine Ahnung, ob die Verjährungsfrist auch bei Versprechungen gilt. Ist ja auch egal. Wie wir im ersten Teil dieser Geschichte erfahren haben, steht Egidio Cattaneo zu seinem Wort und hat geliefert – und zwar ein Geschenk an seine Heimat.
«In wenigen Tagen können Sie in der Nähe des Monte Ceneri Ski fahren», schreibt der Corriere del Ticino erwartungsvoll am 6. Dezember 1972. Wir reden hier von einer Zeitung, in gedruckter Form. Auf Social Media finden wir nichts. Nicht einen einzigen Post, weder auf Instagram noch Facebook. Auch TikTok wird aussen vorgelassen. Komisch. Digitale Analphabeten können wir glatt meinen. Oder hat es eventuell andere Gründe? Wir werden es wohl nie erfahren. Aber abgesehen davon gibt es ein breites und positives Echo in der (gedruckten) Presse. Elf Tessiner und 31 Zeitungen aus der übrigen Schweiz sowie drei ausländische Medien berichten über die Eröffnung. Das Marketing funktioniert. Die potenziellen Gäste sind informiert.
Also, dann schauen wir mal, was am Monte Tamaro in kürzester Zeit so gebaut wurde. Unbestritten, da ist ziemlich aufs Tempo gedrückt worden. Reife Leistung.
Der Berg ist erschlossen. Die Kabinenbahn steht. Und die Skibegeisterten freut‘s. Denn so tausend Höhenmeter mit Skischuhen hoch zur Alpe Foppa zu strampeln, ist jetzt auch nicht unbedingt erstrebenswert. Nein, wir können bequem eine der 130 roten, blauen oder gelben Gondeln nehmen. Vielleicht sollten wir aber nicht unten auf die richtige Farbe warten, sondern einfach rein und ab die Post. Mit drei Metern pro Sekunde bewegen wir uns fort. Das tönt vielleicht nicht nach viel. Doch schneller geht nicht. Das Tempolimit ist damit schon erreicht. So sind wir in der Schweiz. Alles schön reguliert. 3,5 Meter pro Sekunde wäre die Spitzengeschwindigkeit. Aber egal. 29 Masten passieren wir während der Fahrt. Oben angekommen können wir ohne akrobatische Meisterleistung ein- und aussteigen. Grund dafür ist eine technische Neuerung bei der Beschleunigung und Abbremsung. Da sagen wir mal: Danke.
Die Talstation (473 m ü. M.) ist schon ziemlich ideal gelegen. Unmittelbar bei der Ausfahrt der Autobahn. Das ist natürlich für Tagesgäste optimal. Wir können also direkt von der Autobahn runterfahren und dann schön vor der Kabinenbahn parken. Gut, zugegeben. Der Parkplatz muss erst noch gebaut werden. Aber der kommt. Bestimmt. Dann wird er Hunderte von Autos aufnehmen können. Platz genug für alle. Und ja, wenn wir schon so kleinlich sind, die Autobahn muss auch noch fertiggestellt werden. Doch auch die kommt. Da sind wir sicher.
Auf der Nordseite der Alpen haben wir dieses Phänomen bereits kennengelernt. Zwangsläufig dringen wir mit dem Wintersport in einigermassen verschonte Gegenden vor. Das ist der Preis. Anders geht nun mal Skifahren nicht. Dabei hat der punktuelle Massentourismus im Sommer bereits beträchtliche Umweltprobleme im Tessin zurückgelassen. Die sprichwörtliche Kehrseite der Medaille, wenn wir so wollen. Und jetzt kommt noch der Winter dazu. Eine unglaublich schwierige Aufgabe für alle Beteiligten.
Jahr um Jahr vermehren sich die Autos, werden die Hotels voller, auch noch der letzte, gutmütigste Bauer wehrt sich gegen die Touristenflut, die ihm seine Wiesen zertritt, mit Stacheldraht, und eine Wiese um die andre, ein schöner, stiller Waldrand um den andern geht verloren, wird Bauplatz und eingezäunt.
»Zehn Millionen Franken werden am Monte Tamaro verbaut. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Wintertourismus. Die Ankunftsstation der Kabinenbahn sowie die Skilifte sind auf der Alpe Foppa (1530 m ü. M.) angesiedelt. Auf einem Gebiet, das bis anhin nur mühsam erreichbar war. Ergo haben wir hier dasselbe Problem, wie oben erwähnt. Doch die Sensibilisierung ist da. Vielleicht auch, weil es die eigene Heimat ist. Spielt ja weiter keine Rolle. Wir sind froh darüber. Die Landschaft wird nach Möglichkeit verschont. Ein schmaler Grat, den die Monte Tamaro SA vorerst zu meistern weiss. Doch die Herausforderungen diesbezüglich sind gewaltig, wie die kommenden Jahrzehnte zeigen werden.
Sonst hätte ich mich nicht vor den Werbekarren spannen lassen.
»Eine beachtliche Anzahl an Plätzen und doch so gebaut, dass es die natürliche Schönheit des Ortes respektiert.
Eine beachtliche Anzahl an Plätzen und doch so gebaut, dass es die natürliche Schönheit des Ortes respektiert.
Wir sprechen vom einstöckigen Holzrestaurant auf der Alpe Foppa. 350 Personen bietet es Platz und weiteren 200 auf der grossen Terrasse.
Das Chaos soll die Ordnung besiegen – angeblich, weil es besser organisiert ist. Aber keine Angst. Wir sind nicht in die Philosophie abgerutscht. Es geht allein um die Skianordnung vor dem Restaurant. Die ist schon im ersten Winter auf der Alpe Foppa ein geordnetes Chaos – wie in einem etablierten Skigebiet. Aber erstaunlicherweise finden wir jedes Mal unsere zwei geschliffenen Bretter wieder.
Und auf einmal wird das Wasser knapp. Schwierigkeiten gehören zu einer Eröffnung dazu. Irgendetwas passiert immer. So auch hier. Auf einmal ist die Wasserversorgung des Restaurants unterbrochen. Ok. Verzichten wir an dieser Stelle auf Flachwitze – ansonsten sitzen wir dann noch auf dem Trockenen. Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als das Restaurant von Rivera aus zu «betanken». Gut, dass wir eine Kabinenbahn haben.
Da hätten wir den Valleluna-Skilift mit 600 Meter Länge und einem Höhenunterschied von 100 Meter.
Da hätten wir den Valleluna-Skilift mit 600 Meter Länge und einem Höhenunterschied von 100 Meter.
Der Skilift Zottone ist etwas länger, nämlich 700 Meter. Er überwindet 250 Höhenmeter. Oben können wir zwischen einer mittelschweren Piste und einer Piste für Fortgeschrittene wählen.
Im Pianasco-Becken, direkt beim Restaurant, kommen die Einsteiger und Kinder voll auf ihre Kosten. Zwei Skilifte mit einer Länge von 150 Meter bzw. 200 Meter unterstützen bei den ersten Versuchen im Schnee.
Ebenso können wir von der Alpe Foppa eine 400 Meter lange Piste hinunterfahren. Ziel ist die Mittelstation der Gondelbahn, Piano di Mora.
Genau auf den Tag ein Jahr nach der Eröffnung des Skigebiets, am 26. Dezember 1973, wird der Sessellift teilweise in Betrieb genommen. Kostenpunkt: Eine Million Franken.
Durchaus eine Seltenheit. Besonders in einem Skigebiet im Kanton Tessin. Wir meinen einen gut ausgebauten und auch funktionierenden Pistendienst. Da hinken sie alle ein bisschen der Alpennordseite hinterher. Doch das hat sich jetzt geändert. Zumindest am Monte Tamaro.
Die Pistenwärter sind dort nämlich mit modernsten Hilfsmitteln ausgerüstet. Sie haben sich einer einwandfreien Markierung und Überwachung der Pisten verschrieben. Gut, das war jetzt ein bisschen viel Pathos. Dennoch: Trotz pickelharten Pisten gibt es nur wenig Unfälle. Das hat sicher einen Zusammenhang. Und wenn es doch mal passiert, ist die Hilfe schnell vor Ort. Mit Funk sind die Patrouillen untereinander verbunden. Der Abtransport erfolgt mit Kanadierschlitten modernster Bauart oder mit den kräftigen Pistenfahrzeugen direkt zur Gondelstation.
Zehn Jahre hat Egidio davon geträumt. Nun ist es vollbracht.
Wir sind am Anfang (…) 1974 wird die Seilbahn nach Motto Rotondo hinauffahren
»Doch auf den Lorbeeren ausruhen geht nicht. Das machen Visionäre nicht. Es ist noch einiges geplant dort oben am Monte Tamaro. Schauen wir es uns kurz an. Auf der Karte oben sind A (Kabinenbahn), B, C und D (Skilifte) erfolgreich abgeschlossen. Für F hat die Zeit nicht mehr gereicht. Damit ist die Sesselbahn Alpe Foppa di Sotto-Bocchetta gemeint.
In einer weiteren Bauphase ist eine Seilbahn geplant, die hoch auf den 1928 Meter hohen Aussichtsberg, Motto Rotondo, geht. Das Valle di Duragno wird damit für uns zugänglich gemacht. Auf dem Gipfel ist ein Drehrestaurant vorgesehen – ähnlich wie auf dem Schilthorn.
Als Wintersportkanton dasselbe Ansehen gewinnen, wie es für den Sommer schon üblich ist.
Bleiben wir im Hier und Jetzt. Bei der Eröffnung dieses grossartigen Gebiets. Ein bekanntes Dictum besagt, dass aller Anfang schwer ist. Wohl wahr. Denn genau jetzt, wenn alles bereitsteht, schauen wir mit Sorgenfalten nach Italien – zu einer unserer Hauptansprechgruppen. Wieso das? Aus Gründen, die wir nicht beeinflussen können. Einerseits ist die Lira auf Tauchstation und andererseits kommt die liebe Erdölkrise mit einem ausgedehnten Sonntagsfahrverbot in Italien im Gepäck auf uns zu. Genau in diesen Zeiten öffnet das Skigebiet am Monte Tamaro.
All diese Ereignisse führen nun dazu, dass die «Ente Ticinese per il Turismo» neben dem Sommer auch Werbung für den Winter macht. Das Gesicht dieser Kampagne ist Peppo Scivola. Genau, richtig gesehen: Der Typ raucht einfach mal schnell eine Zigarre – oder ist es eine Brissago? Sei‘s drum. Wieso er das tut, bleibt wohl das Rätsel der Marketingfachleute. Irgendeine Statistik oder Studie wird dies wohl untermauert haben.
Sein Rat ist aber eindeutig: Winterferien im Tessin sind voll angesagt. Um einen zusätzlichen Anreiz dafür zu schaffen, wird sogar ein Seilbahnen-Abonnement mit 20%-Rabatt ausgegeben.
Der Winter ist so angesagt, dass sogar im Sommer Wintersportarten angeboten werden. Echt jetzt? Klar, und zwar – Trommelwirbel* – Sommerlanglauf. Ok. Jetzt ist es definitiv: Die spinnen, die Tessiner.
Die Spitzenläufer Edi Hauser, Albert Giger und Venanzio Maranta eröffnen am 15. Juli 1973 die 700 Meter lange Kunststoff-Langlaufloipe, die dem Langlaufsport zusammen mit einer präparierten Loipe im Winter ähnliche Impulse wie in der Deutsch- und Westschweiz verleihen soll.
Es ist erst die zweite Piste solcher Art in der Schweiz. Sie ist einerseits dafür vorgesehen, dass erfahrene Läufer ihr Konditionstraining im Sommer durchführen können, andererseits steht die Piste natürlich auch allen Volksläufer gratis zur Verfügung – trotz einer Investition von 25 000 Franken. Das ist mal grosszügig.
Es läuft sich wie im März-Sulzschnee, mit viel Widerstand.
»Die drei Läufer sind sich bei der Einweihung einig: Das Gleiten auf Schnee braucht definitiv weniger Kraft. Die Bürstenpiste verlangt von den drei Profis alles ab. Auch das mit dem Gleichgewicht sei nicht so einfach.
Naja, als ob Langlaufen nicht schon genug anstrengend wäre. Trotzdem: Die Piste ist für Konditionstraining ausgelegt, also erfüllt sie wohl auch ihren Zweck.
Eines ist aber klar: Der Langlaufsport im Südkanton erhält dadurch am Monte Tamaro einen ganzjährig betriebenen Stützpunkt.
«Alles fährt Ski» am Monte Tamaro. Die Investition in den Winter hat sich gelohnt. Die Menschen im Sottoceneri haben einen neuen Hausberg. Ein Berg, an dem zahlreiche Jugendliche zum ersten Mal auf den Skiern stehen werden. Eine Erinnerung für die Ewigkeit.
Und wer weiss, vielleicht wird aufgrund des Engagements eines Einzelnen das Gebiet am Monte Tamaro wieder so geschätzt wie einst zu Zeiten des Tessiner Naturforschers Luigi Lavizzari.
Um den Betrachter herum entfaltet sich ein herrliches Panorama, eine willkommene Belohnung für die Unannehmlichkeiten des Aufstiegs.
»Blick aus der Zukunft in die Vergangenheit und zurück. Wenn wir 50 Jahre in die Zukunft spulen, sehen wir deutlich, dass sich die Zeiten geändert haben und wir uns eben auch in ihnen. Und das ist absolut richtig so. Vielfach kommt in diesem Kontext die Frage auf, was denn heute noch aus der Anfangszeit besteht. Die Gondeln wurden ersetzt, Skilifte abgerissen, das Restaurant erneuert – ja der gesamte Winter wurde gestrichen. Aber eben: Diese Dinge sind nicht wesentlich. Es sind vielmehr die Menschen, die sich für die Region einsetzen. Es ist die Natur, die sich in dieser Umgebung entfalten kann. Es ist ganz einfach: die Philosophie. Und so bleibt aus der Anfangszeit auch passenderweise das Klemmsystem an den Gondeln. Einzigartig im Alpenraum – wie auch der Berg und die Philosophie des Unternehmens selbst. Eine Klemme, die symbolisch diesen Familienbetrieb zusammenhält, das Alte mit dem Neuen verbindet, für nachhaltige Entwicklung sorgt – und immer an den Mut und das Engagement eines Einzelnen erinnert. An einen Mann, der den Menschen im Sottoceneri den Wintersport nähergebracht hat. An einen Visionär aus Rivera-Bironico. An Egidio Cattaneo.